Nationale und internationale Studien zeigen, dass die Anzahl wohnungsloser Menschen mit psychischen Erkrankungen in den letzten Jahren gestiegen ist.
Das gemeinsame Auftreten von Wohnungslosigkeit und psychischer Erkrankung potenziert die Gefahr des gesellschaftlichen Ausschlusses. Die Folge ist eine doppelte Stigmatisierung. Einsamkeit und Zurückgezogenheit verstärken psychische Problematiken.
Neben einer gesicherten Wohnmöglichkeit sowie der medizinischen Versorgung trägt eine Tagesstruktur wesentlich zum psychischen Wohlbefinden und zur Stabilisierung des Allgemeinzustandes bei.
Der Dachverband Wiener Sozialeinrichtungen hat im Projekt „Alltags- und tagesstrukturierende Angebote für wohnungslose Menschen mit psychiatrischem und psychosozialem Unterstützungsbedarf“ Lösungsansätze für jene Personengruppen erarbeitet, die aufgrund von Zugangsbarrieren auf System- und individueller Ebene bestehende Angebote nicht nutzen können.
Im Speziellen wurde erhoben, inwiefern bestehende Angebote von psychisch beeinträchtigten wohnungslosen Menschen genutzt werden können und wie ein neues alltagsstrukturierendes Angebot konzipiert werden müsste, damit die Lebensqualität dieser Personengruppe gefördert wird.
Warum ist eine Alltagsstruktur so wichtig?
Dass eine Tagesstruktur positive Auswirkungen auf die Lebensqualität von Menschen hat, zeigt eine vom Fonds Soziales Wien durchgeführte Befragung zur Lebensqualität von Menschen mit Behinderung: Knapp zwei Drittel der Menschen mit psychischen Erkrankungen gaben an, dass ihnen eine Tagesstruktur ermöglicht, Dinge zu machen, die früher aufgrund ihrer psychischen Probleme unvorstellbar waren: Weil beispielsweise „die Gedanken mehr geordnet“ sind und sie jetzt „einen geregelten Ablauf, eine bessere Einteilung“ hätten. Weitere positive Aspekte einer vorhandenen Alltagsstruktur sind ein gesteigertes Wohlbefinden, eine Milderung der Krankheitssymptome und dass sie seit dem Beginn der Tagesstruktur mehr selbst bestimmen und entscheiden würden.
Eine Tagesstruktur gibt also Stabilität und Sicherheit. Dies ermöglicht die Teilhabe am sozialen Leben und befriedigt damit ein existenzielles menschliches Bedürfnis.
So sollen die Angebote aussehen
Alltags- und tagesstrukturierende Angebote sollten niederschwellig sein: Der Zugang zu den Unterstützungs- oder Hilfsangeboten muss unbürokratisch und unmittelbar möglich sein, d.h. ohne Hürden wie Anträge oder Befunde. Zur Niederschwelligkeit gehört außerdem, dass die Angebote freiwillig und akzeptierend sind: Während vor Ort bestimmte Regeln des Zusammenseins gelten (z.B. Verzicht auf Gewalt), dürfen von den KlientInnen keine Verhaltensänderungen gefordert werden.
Alltags- und tagesstrukturierende Angebote sollten offen sein: Sie dürfen wenigen Anforderungen bezüglich Anwesenheit, Verbindlichkeit und Pünktlichkeit unterliegen. Wohnungslose Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen erleben klassische Tagesstruktur-Angebote mit verpflichtenden Terminen als Überforderung. Sie benötigen stattdessen ein Angebot, das sie (mehr oder weniger) spontan und punktuell nutzen können.
In den Fokusgruppen gaben sowohl wohnungslose Frauen als auch Männer an, wie wichtig ihnen eine sinnstiftende Beschäftigung ist: Sie wollen „den Tag nicht verplempern“, „etwas für die Gemeinschaft tun“ und das Gefühl haben, „… dass ich rückblickend etwas geschafft habe, das erledigt habe, was ich mir vorgenommen habe und das dann ad acta legen kann“.
Darüber hinaus gibt es einige Faktoren, die die Inanspruchnahme von alltagsgestaltenden Angeboten durch psychisch beeinträchtigte wohnungslose Menschen fördern bzw. hemmen können:
Manche KlientInnen der Wohnungslosenhilfe verlieren (aus unterschiedlichen Gründen, z.B. als Folge einer unbehandelten psychischen Erkrankung) ihren Wohnplatz. Sind die Angebote außerhalb der Wohneinrichtung angesiedelt, können sie diese weiterhin unabhängig von ihrer Wohnversorgung besuchen.
Aufsuchende Angebote – also solche, die z.B. in den Wohnbereichen der KlientInnen mit ihnen in Kontakt treten – sind wichtige Brücken, um tagesstrukturierende Angebote annehmen zu können. Die Hemmschwelle wird reduziert, wenn diese vor Ort ausprobiert und genutzt werden können.
Sowohl die FachexpertInnen als auch die Betroffenen betonten, dass bei einem deklarierten Angebot für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen die Gefahr einer weiteren Stigmatisierung besteht. Vielmehr wollen die Betroffenen auch „normale Leute treffen“ und so an der Gesellschaft teilhaben.
Förderlich ist eine Vielfalt von Angeboten, um die unterschiedlichen Interessen und Wünsche von KlientInnen zu berücksichtigen. Im Sinne der Akzeptanz sollten diese bei der Planung miteinbezogen werden. Kostenlose Angebote werden naturgemäß besser angenommen als kostenpflichtige.
Konkrete Maßnahmen
Im Rahmen des Projekts wurde nicht nur erarbeitet, wie neue alltags- und tagesstrukturierende Angebote aussehen sollen, sondern auch der Zugang zu bereits bestehenden Angeboten für psychisch beeinträchtigte Menschen gefördert werden kann.
Zu bestehenden Angeboten wurde der Zugang für wohnungslose Menschen erweitert, indem Vereinbarungen mit KooperationspartnerInnen getroffen wurden. Einige KooperationspartnerInnen planen ihre Angebote so zu adaptieren, dass sie auch von wohnungslosen Menschen genutzt werden können. Darüber hinaus wurden Grobkonzepte für niederschwellige, inklusive Angebote erarbeitet. Wichtig ist, dass keine Parallelstruktur zu bestehenden Angeboten geschaffen wird.
Eine wichtige Erkenntnis des Projekts ist, dass es bei der Zielgruppe psychisch Erkrankter hinsichtlich psychosozialer Problematiken und Herausforderungen große Überschneidungen zwischen Wohnungslosenhilfe und Behindertenarbeit gibt. Daher sollen die beiden Bereiche in der Zukunft besser vernetzt werden – sowohl zum interdisziplinären Wissenstransfer als auch zur Weiterentwicklung von fachspezifischen Themen.
Die Ergebnisse wurden in einem Projektbericht zusammengefasst. Zusätzlich entstand ein Leitfaden für die Durchführung von Fokusgruppen. Den Projektbericht stellen wir Ihnen gerne zur Verfügung – siehe auch Linktipp am Ende.
Der „Wintergarten“ – ein Beispiel aus der Praxis
Ein Beispiel für ein alltags- und tagesstrukturierendes Angebot, das wesentliche der im Rahmen des Projekts herausgearbeiteten Anforderungen erfüllt, ist der „Wintergarten“ der Heilsarmee Österreich. Schon seit Jahrzehnten in der Wohnungslosenhilfe tätig, beobachtete auch die Heilsarmee die steigenden Zahlen psychisch erkrankter KlientInnen. !
Seit Jänner 2018 bietet die Heilsarmee im 2. und 20. Bezirk das „Intensiv Betreute Wohnen“ in Wohngemeinschaften für psychisch beeinträchtigte Menschen an. Im Februar 2019 eröffnete zusätzlich dazu in der Nähe der Wohnungen der Tagestreff „Wintergarten“ mit alltags- und tagesstrukturierenden Angeboten.
„Mit dem Angebot bekommen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen besondere Unterstützung“, berichtet Roland Skowronek, Bereichsleiter Betreutes Wohnen und stellvertretender Geschäftsführer der Heilsarmee Österreich. Eine Öffnung des Tagestreffs für andere wohnungslose Menschen mit psychiatrischem und psychosozialem Unterstützungsbedarf ist in Planung.
Die KlientInnen bekommen mit dem „Wintergarten“ die Möglichkeit, ihren Alltag besser zu strukturieren: „Wir bieten unseren BewohnerInnen ganz unterschiedliche Aktivitäten: Von Malen und Basteln über Möbel-Upcycling und Blumenpflanzen bis zu Nordic Walking und Kochen“, so Skowronek.
Die Entscheidung, was gemacht wird, erfolgt partizipativ: Bei den BewohnerInnen-Treffen werden Vorschläge gesammelt und gemeinsam über das Angebot entschieden. Der „Wintergarten“ ist dienstags, mittwochs und donnerstags geöffnet, ein Mal pro Woche ist ein Psychiater anwesend. Wie viele Personen vor Ort sind, ist unterschiedlich. Denn für viele ist es schon ein großer Schritt, ihre Wohnung überhaupt zu verlassen.
„Wir merken, dass die KlientInnen durch das tagesstrukturierende Angebot aktiver werden. Sie freuen sich über die sinnvolle Beschäftigung und wenn sie am Ende des Tages ein selbstgekochtes Essen oder eine Zeichnung vor sich haben. Sie bekommen Lob und Selbstbestätigung. Das lässt sie aufblühen“, erzählt Skowronek. Viele wissen gar nicht, was in ihnen steckt und welche Potenziale sie haben. Die gilt es, freizulegen und aufzuzeigen: „Denn durch die Beschäftigung eröffnen sich ganz neue Perspektiven für die Betroffenen.“