Auditorium Psychiatrietagung - 16. Juni 2023

Zusammenarbeit WFH-Psychiatrien – Fachtagung 16. Juni 2023

Geflüchtete Menschen mit psychiatrischem Unterstützungsbedarf sind vielfach belastet: Die Betroffenen leiden neben etwaigen psychiatrischen Vorerkrankungen an den gravierenden Auswirkungen von Unterdrückung, Gewalt, Krieg und Flucht. Zugleich sind sie auch im Aufnahmeland massivem Stress, Unsicherheit, vielfältiger Diskriminierung, prekären Lebensbedingungen und sprachlichen und kulturellen Barrieren ausgesetzt. Beim Engagement für bestmögliche Hilfe sind die Einrichtungen der Flüchtlingshilfe wie auch die Psychiatrien mit vielfachen Herausforderungen konfrontiert.

 

Thema im DWS

In der Arbeitsgruppe „Psyche“ stellte sich rasch heraus, dass die Abhängigkeit von der stationären Psychiatrie und die mangelnde Kooperation mit dieser eine der größten Belastungen für diejenigen Organisationen und deren Mitarbeiter_innen darstellt, die mit knappen Ressourcen psychisch kranke bzw. schwer belastete Menschen mit Fluchterfahrung betreuen.

Die Stakeholder im Gesundheitsbereich arbeiten intensiv an langfristigen strukturellen Verbesserungen, während gleichzeitig unmittelbare Veränderungen in der täglichen Zusammenarbeit mit den psychiatrischen Abteilungen aus Perspektive der Wiener Sozialwirtschaft dringend notwendig sind.

Der Dachverband Wiener Sozialeinrichtungen konzentriert sich deshalb seit 2022 in diversen Gremien und Austauschtreffen darauf, den tatsächlichen Handlungsspielraum der psychiatrischen Abteilungen in der Zusammenarbeit mit der Wiener Flüchtlingshilfe und letztlich im Umgang mit geflüchteten Patient_innen auszuloten. Unterstützt wird der DWS dabei von den Psychosozialen Diensten Wien (PSD) und dem Fonds Soziales Wien (FSW).

Am 16. Juni 2023 fanden sich in den Räumlichkeiten des DWS genau jene Mitarbeiter_innen der Wiener Flüchtlingshilfe (DWS), der ambulanten (PSD) und stationären Psychiatrien (WiGeV) ein, die in die Betreuung und Behandlung Wiener Geflüchteter in Quartieren und Spitälern direkt involviert sind, um aufbauend auf den Vereinbarungen der 1. Fachtagung im November 2022 ihre Zusammenarbeit zu evaluieren und ein detailliertes Commitment einzugehen.

Spürbar war die Entwicklung von einer Arbeitsbeziehung oder Nicht-Beziehung zwischen Quartieren und Spitalsabteilungen, geprägt von Friktion und Spannung, hin zu einem Teamgedanken, der auf eine gemeinsame Betreuung und Behandlung der Klient_innen/Patient_innen in den jeweiligen Regionen der Stadt abzielt. Herausgearbeitet und vermittelt werden konnten durch die intensive Vernetzung, Information und Lobbying, die Grundgedanken, dass 1. Jede_r Mitarbeiter_in auch in einer schwierigen Versorgungslage

einen Handlungsspielraum hat, und diesen im Sinne der Patient_innen ausschöpfen kann 2. Geflüchtete Menschen zweifelsfrei genauso gut betreut werden müssen wie andere Wiener Patient_innen, auch wenn dies einen Mehraufwand bedeutet, 3. Für die Vermeidung von Brüchen und Lücken in Behandlung und Betreuung (z.B. bei Entlassung nach Spitalsaufenthalt) die in den Fall involvierten Mitarbeiter_innen auf allen Seiten (WFH, Liaisondienst, Rettung, Spital) die gemeinsame Verantwortung tragen.

Die vielen angeregten Diskussionen und die gute Atmosphäre am 16. Juni trugen dazu bei, die Beziehungen und das Verständnis für die spezifischen Anforderungen im jeweiligen Arbeitsalltag zu vertiefen. Der Dachverband hat sich auf vielfachen Wunsch dazu entscheiden, jährlich eine solche Tagung zu veranstalten, die sich der weiteren Vertiefung der Beziehungen, der Verbesserung der Zusammenarbeit, der Einbindung neuer Kolleg_innen und der Vermittlung von Fachwissen unterschiedlicher Disziplinen widmet. Zudem veranstaltet der DWS von 21.-23. Februar 2024 in Kooperation mit allen Wiener Rettungsdiensten eine Multiplikator_innenschulung, bei der sich Sanitäter_innen in Bezug auf die Themen ‚Menschen mit Fluchterfahrung‘ und ‚psychische Gesundheit besonders vulnerabler Gruppen‘ weiterbilden.

Mit dem WiGeV und der MA24 konnte der Dachverband außerdem die Vereinbarung erzielen, dass in allen Wr. Spitälern lückenlos Video- oder anderes professionelles Dolmetsch sowie Ansprechpartner_innen für die Umsetzung auf allen Stationen zur Verfügung steht.

 

Zentrale Probleme an den Schnittstellen bisher und erarbeitete Lösungen:

  • Der lückenhafte Einsatz von (Video-) Dolmetsch in der Mehrzahl der Wr. Spitäler
  • Die mangelnde Kommunikation zwischen Flüchtlingshilfe und Psychiatrischen Abteilungen außerhalb und in Krisensituationen
  • Kaum Kenntnis über jeweilige Rahmenbedingungen, keine gegenseitigen Besuche zwischen Spitälern und Quartieren der Flüchtlingshilfe
  • Unterschiedliche Stammdatenblätter in Verwendung bei der Flüchtlingshilfe
  • Uneinheitliche Wordings in Bezug auf Patient_innen- und Lageeinschätzung
  • Uneinheitliche und z.T. unklare Abläufe bei Aufnahme und Entlassung (Patient_innen kamen z.T. nach Entlassung nicht im Quartier an oder trafen dieses unvorbereitet)
  • Verlust von Dokumenten und Informationen bei Rettungseinsätzen
  • Keine definierten Ansprechpersonen auf beiden Seiten
  • Z.T. unzureichende Beachtung der liaisondienstlichen Befunde und Einschätzungen in den Spitälern
  • Nicht ausreichend detaillierte Informationen in Patient_innenbriefen zur Weiterbetreuung

 

Die Lösungen und Vereinbarungen im Detail:

Vereinbarungen über die Zusammenarbeit Wiener Flüchtlingshilfe – Psychiatrien zur Verbesserung der gemeinsamen Versorgung geflüchteter Menschen mit psychischen Erkrankungen:

  1. Zusagen der Wohneinrichtungen der Wiener Flüchtlingshilfe
  2. Zusagen der psychiatrischen Abteilungen
  3. Vereinbarungen über die Zusammenarbeit

 

1. Zusagen der Wohneinrichtungen der Wiener Flüchtlingshilfe

  1. Telefonische Benachrichtigung der Dienstärztin/des Dienstarztes bzw. der Abteilung seitens der Wohneinrichtung, wenn sich in Bezug auf eine_n Kundin/en eine Krisensituation ankündigt und mit einer weiteren Eskalation zu rechnen ist. Die bestehenden, begleitenden Unterstützungsmaßnahmen (z.B. Liaisondienst) werden jedenfalls gleichzeitig weitergeführt.
  2. Im tatsächlichen Krisenfall erfolgt seitens der Wohneinrichtung ein Anruf bei Rettung UND Dienstärztin/-arzt mit kurzem Briefing zum aktuellen Sachverhalt.
  3. Die Person in akuter Krise soll bitte zu den Rettungskräften geführt werden sofern möglich – für Sanitäter_innen ist das „Suchen“ in den Quartieren verunsichernd.
  4. Wichtig: Die Betreuer_innen sind aufgefordert, ihr Wissen und ihre Einschätzung bzgl. des Falls/der Situation entsprechend ihrer Kompetenz sowie klar und kurz mit den Rettungskräften zu teilen. Zögerliche Einschätzung bzw. Kommunikation kann als mangelnde Kompetenz missinterpretiert werden.
  5. Unterlagen und Informationen, die der Rettung im Akutfall jedenfalls mitzugeben sind:
    • Stammdatenblatt:
      • Die Vorlage liegt der Vereinbarung bei und ist von allen Wohneinrichtungen zu verwenden.
      • Das Stammdatenblatt ist regelmäßig zu aktualisieren. Insbesondere ist darauf zu achten, dass die Ansprechperson der Wohneinrichtung korrekt vermerkt ist (sowohl generell als auch im Akutfall)
    • Medizinische Unterlagen:
      • – Befunde/Diagnose
      • – Medikamentenplan UND exakte Bedarfsmedikation
      • – Liaisondienst: Informationen zu Entwicklungsverlauf, Vorbehandlungen
    • e-card bzw. Ersatzbeleg
  6. Sanitäter_innen werden auf die unbedingte Relevanz der vollständigen Dokumentenübermittlung hingewiesen
  7. Bei Ablehnung der Aufnahme: Wohneinrichtung bemüht sich im Austausch mit Abteilung bzw. Dienstarzt/-ärztin um Klärung der Gründe, weshalb keine Aufnahme erfolgt ist. Gegebenenfalls erfolgt mehrfache Kontaktnahme zur Beschreibung der akuten Gefährdungslage
  8. Führen von regelmäßigen fallbezogenen Gesprächen – entsprechende Initiative ist von allen involvierten Ansprechpersonen/Organisationen/Stellen jederzeit möglich

 

2. Zusagen der psychiatrischen Abteilungen

    1. Befunde und Einschätzungen der Kolleg_innen, die mit dem/der Patient_in vertraut sind, werden in die Lage- bzw. Patient_innenbeurteilung miteinbezogen und finden entsprechende Berücksichtigung.
      Hinweis: Bei der Unterbringungsverhandlung dürfen auch Zeug_innenaussagen, z.B. in Hinblick auf Selbst- und Fremdgefährdung, eingeholt werden.
  1. Bei Aufnahme erfolgt Kontaktnahme mit der Wohneinrichtung, falls die Patient_innenunterlagen NICHT auf der Station eingelangt sind > Übermittlung an die Station erfolgt diesfalls durch die Wohneinrichtung per email
  2. Bei geplanter sowie ungeplanter Entlassung erfolgt jedenfalls eine zeitgerechte telefonische Information an die Wohneinrichtung (inkl. Information, bei welcher Ansprechperson der Station zu einem späteren Zeitpunkt gegebenenfalls rückgefragt werden kann)
  3. Ausführlicher Patient_innenbrief inkl. veranlasster(n) Therapie(n) UND aktueller Medikation ergeht ausgedruckt an Patient_in UND postalisch – mit Einverständnis des/der Patient_in – an die Wohneinrichtung
  4. Mitgabe der Medikamente für mindestens 3 Tage
  5. Mitgabe der exakten Auflistung der Bedarfsmedikation
  6. Mitgabe der Information betreffend folgende (Kontroll-)Termine

 

3 Vereinbarungen über die Zusammenarbeit

  1. Ansprechperson: Jede Station und jede Wohneinrichtung haben mindestens 1 Ansprechperson definiert, die im Einzelfall sowie bei generellen Fragen oder Klärungsbedarf im Rahmen der Zusammenarbeit kontaktiert werden kann (siehe beiliegende Liste „Ansprechpersonen“)
  2. Verlässlicher und nachhaltiger Austausch: Die Ansprechpersonen etablieren gemeinsam ein regelmäßiges Austauschformat für ihre Dienststellen, das folgende Maßnahmen beinhaltet:
    • Telefonischer Austausch, vor allem auch fallbezogen
    • Gegenseitige Besuche = Vernetzungstreffen in regelmäßigen Abständen in der Wohneinrichtung UND in der Klinik
    • Aufnahme von Vertreter_innen der Wiener Flüchtlingshilfe bzw. der psychiatrischen Abteilung in jeweils bestehende Vernetzungsformate
    • Klärung zu Wordings und Codes im Zusammenhang mit Patient_innen zur Etablierung einer gemeinsamen Sprache und zwecks Vermeidung von Missverständnissen (Beispiel für Akutfall: unmittelbarer Handlungszwang, psychosegeleitetes Verhalten, suizidale Einengung…); die Erstellung eines Glossars mit den gängigsten Begriffen ist geplant.

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