Zukunft Soziale Stadt – ein Aufriss

4% der Wiener*innen sind erheblich materiell depriviert

Die EU-SILC Erhebung definiert aktuell 9 Kriterien für Armut. Menschen auf die mindestens 4 dieser Kriterien zutreffen gelten als erheblich materiell depriviert. Diese materielle Armut stellt eine Gefahr für das friedliche Zusammenleben und emanzipatorische Aspekte einer sozialen Stadt dar.

Wer in schwierigen Situationen um Lebensnotwendiges betteln oder gar kämpfen muss, lässt sich einfacher gegen andere aufhetzen. Wer sich regelmäßig den Kopf darüber zerbrechen muss, wie man die eigenen Kinder das restliche Monat über warm und satt halten kann, anstatt mit ihnen gemeinsam ihre Zukunft zu gestalten, denen fehlt jegliche Zeit und Motivation, sich über gendersensible Lebensweisen oder Klimapolitik auszutauschen. Schlimmer noch, 39% des abgehängten Prekariats geben den gesellschaftlichen Entwicklungen die Schuld an ihrer Situation und in weiterer Folge dem politischen System häufig die Verantwortung dafür.

Aber die Wiener Idee der Sozialen Stadt hat sich nie auf das bloße Überleben der Menschen beschränkt. Für sie waren materielle Absicherung und progressive Gesellschaftspolitik nie ein Widerspruch, sondern bedingen einander. Eine zukunftsweisende Diskussion muss sich deshalb dem Ziel eines sozialen Raumes von vielen verschiedenen Blickwinkeln nähern.

 

Das Verständnis des Wohlfahrtsstaats

Einerseits: weiterhin erwerbsarbeitszentrierter Sozialversicherungsstaat mit hoher institutioneller Stabilität und Pfadabhängigkeit wie der österreichische Sozialstaat historisch konzipiert wurde. Andererseits: Adaption von Elementen durch De-Regulierung und Workfare-Elemente in der Arbeitsmarkpolitik; Stärkere Eigenverantwortung am Arbeitsmarkt und bei der Alterssicherung und Ausbau servicierter Angebote.

Der traditionelle Sozialstaat schafft Umverteilung – ohne jedoch die soziale Ungleichheit zu verringern. Sozialstaatliche Leistungen sind Megatrends – wie zB dem Demografischen Wandel oder der Transformation der Arbeitswelt – kaum noch gewachsen. Es kommt zu einer zunehmenden Polarisierung zwischen High- & Low-Performern und zu einer zunehmenden Einkommensungleichheit. Es wird der Bedarf an einer präventiven und befähigenden Sozialpolitik sichtbar.

 

Stadtplanung & Segregation

Segregation beschreibt die räumliche Absonderung einer Bevölkerungsgruppe nach Merkmalen wie sozialer Schicht, ethnisch-kulturellem Hintergrund oder Lebensstil. So gibt es so genannte Studentenviertel, Armutsviertel, Stadtteile, in denen überwiegend Migranten, ältere Menschen oder Familien leben. Wenn die Segregation freiwillig geschieht, das heißt, wenn Personen ähnlichen Lebensstils und ähnlicher Milieus – beispielsweise Künstler, junge Familien oder Migranten – ein Wohngebiet einem anderen vorziehen muss das im ersten Schritt noch kein Problem sein. Im Gegenteil, es können sich Netzwerke und Unterstützungsstrukturen bilden. Erst wenn sich die Segregation verbindet mit einer deutlichen Ungleichverteilung von Lebenschancen und gesellschaftlichen Privilegien über die in Frage stehenden sozialen Gruppen, wird sie zu Ausgrenzung, Ghettoisierung und Diskriminierung. Häufig fokussieren städtische Veränderungsprozesse dabei durch eine Migrationslinse. Obwohl es sich um einen wichtigen Blickwinkel handelt, sollte man sich nicht darauf beschränken, weil man sonst Gefahr läuft, verfestigte Kategorisierungen weiter zu reproduzieren.

 

Sozialer Ausgrenzung vs. soziale Eingliederung

Soziale Ausgrenzung ist ein Prozess, durch den bestimmte Personen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und durch ihre Armut an der vollwertigen Teilhabe gehindert werden. Manche aktuellen Reformvorschläge würden Sozialmaßnahmen noch stärker stigmatisieren. Aber auch das Ziel soziale Ausgrenzung zu vermeiden, formuliert noch keinen wünschenswerten Zustand und läuft Gefahr die Stigmatisierung betroffener Menschen zu unterstützen.

Soziale Eingliederung ist ein Prozess, durch de gewährleistet wird, dass Personen, die von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht sind, die erforderlichen Chancen und Mittel erhalten, um am gesellschaftlichen Geschehen voll teilzunehmen und in den Genuss des Lebensstandards und Wohlstands zu kommen, der in der Gesellschaft, in der sie leben, als normal gilt. Dafür braucht:

  • Förderung von Investitionen in aktive Arbeitsmarkmaßnahmen und deren Ausrichtung an den Erfordernissen der am schwersten zu vermittelnden Personen
  • Gewährleistung von Sozialschutzsystemen, die angemessen sind, allen offenstehen und denen, die arbeiten können, wirksame Arbeitsanreize bieten
  • Erweiterung des Zugangs der von sozialer Ausgrenzung bedrohten Personen zu angemessenen Wohnverhältnissen, hochwertigen Gesundheitsdienstleistungen und Möglichkeiten für lebenslanges Lernen
  • Umsetzung konzertierter Maßnahmen zur Verhinderung von Schulabbrüchen und Förderung eines reibungslosen Übergangs von der Schule ins Erwerbsleben
  • Beseitigung von Kinderarmut und der sozialen Ausgrenzung von Kindern
  • Bekämpfung der Armut und Ausgrenzung von Zuwander_innen und ethnischen Minderheiten

 

Wiener Mindestsicherung – die materielle Absicherung

Es können fünf unterschiedliche Wege in die WMS identifiziert werden:

  1. Systemsprenger*innen(junge Menschen, deren komplexe Probleme das System überfordern)
  2. Opfer von Beziehungsgewalt(Frauen, die sich aus Gewaltbeziehungen befreien konnten)
  3. Fluchtkinder(junge Erwachsene, die als Kinder mit ihren Eltern nach Österreich geflüchtet sind)
  4. Downsized(ältere Menschen, die die Prekarisierung „ihres“ Arbeitsfelds nicht verkraftet haben)
  5. Hasardeur*innen(die aus Risikofreude eine Reihe „falscher“ Entscheidungen getroffen haben)

 

Die soziale Stadt im Umbruch

Die Welt hat sich verändert und mit ihr die Menschen mit ihren Bedürfnissen, Zielen und Fähigkeiten. Das gilt für unsere Klient_innen wie auch für unsere Mitarbeiter_innen. Den historisch gewachsenen Strukturen und Organisationen fällt es immer schwerer ihre ursprünglichen Versprechen einzuhalten. Das gilt sowohl für rasch hereinbrechende Krisen wie Pandemien und Kriege, wie auch für vorhersehbare, aber massive Veränderungen wie dem Wechsel der Babyboomer vom Arbeits- ins Pensionsleben oder den Klimawandel.

Inwiefern stellt sich die soziale Frage unter den heutigen Bedingungen? Welche Sozialen Fragen haben immer noch Geltung und welche müssen wir uns gemeinsam neu stellen?

Die gewachsene Bandbreite an individualisierten Herausforderungen der Wiener_innen und die Geschwindigkeit in der globale Krisen über unsere Stadt hereinbrechen können, braucht eine präventive und befähigende Sozialpolitik. Eine Sozialpolitik die Resilienzfähigkeiten fördert, kann in Städten dazu beitragen, einen selbstwirksamen und positiven Umgang mit Krisensituationen zu erlernen, diese Lernerfahrungen weiterzugeben und damit zukünftigen Krisen zuversichtlicher und besser zu begegnen. Für die soziale Stadt bedeutet das, einen institutionellen, physischen und kulturellen Raum zu bieten, um Bürger_innen, lokale Gemeinschaften, Unternehmen und Organisationen beim Aufbau solcher Systemfähigkeiten zu unterstützen.

 

Gedanken zur Sozialen Stadt

 

 Fragen:

  • Wie muss der Sozialstaat angesichts der Transformation neu aufgestellt werden?
  • Welche Rolle kommt der sozialen Arbeit zu?
  • Was ist ein freundlicher Sozialstaat in einer heterogenen Wettbewerbs- und Migrationsgesellschaft?
  • Wie können wir der Bedeutung von Partizipation bei der Gestaltung des Sozialstaats gerecht werden?
  • Welche Herausforderungen ergeben sich im Zuge der sozialen Polarisierung und aufgrund räumlicher Segregation?
  • Welche Anti-Diskriminierungspolitik brauchen wir?

Weitere Vorschläge