Chancen-Gerechtigkeit

„Ein feiner, aber wesentlicher Unterschied: Im Vergleich zu Chancengleichheit, die die gleichmäßige Verteilung von Ressourcen meint, beschreibt Chancengerechtigkeit die Verteilung bestimmter Ressourcen für die Personen, die diese brauchen, um an die gleichen Chancen zu gelangen.“

Katharina Mader
Ökonomin am Momentum Institut

Herausforderungen

Gesellschaftlicher Zusammenhalt braucht einen klaren Gerechtigkeitsbegriff

In den Diskussionen wurde deutlich, wie zentral die Frage nach dem Gerechtigkeitsbegriff für unsere Gesellschaft ist. Unterschiedliche Vorstellungen – von Leistungsgerechtigkeit über Chancengleichheit bis zu Bedarfsgerechtigkeit – beeinflussen politische Entscheidungen und gesellschaftliche Entwicklungen. Es stellt sich die Frage: Was braucht es, um das gesellschaftliche System langfristig zu stabilisieren und einen sicheren Zusammenhalt zu ermöglichen? Ohne eine klare Vision von Gerechtigkeit bleiben Antworten und Maßnahmen vage.

Ungleichheit im Alltag – ein strukturelles Problem

Viele Menschen befinden sich in einem permanenten ökonomischen Überlebenskampf – häufig verbunden mit dem Gefühl, sich selbst ausbeuten zu müssen, um überhaupt mithalten zu können. Diese Dynamik betrifft nicht nur Einzelpersonen, sondern ist Ausdruck systemischer Schieflagen. Es braucht politische Rahmenbedingungen, die nachhaltige Arbeits- und Lebensrealitäten fördern – etwa durch faire Löhne, leistbares Wohnen, psychosoziale Sicherheit und gesellschaftliche Anerkennung von Care-Arbeit.

Altersarmut trifft besonders Frauen

Altersarmut ist längst kein Randthema mehr – und sie betrifft überproportional häufig Frauen. Lebenslange Lohnungleichheiten, Teilzeitkarrieren aufgrund unbezahlter Sorgearbeit und unzureichende Rentensysteme führen in die finanzielle Abhängigkeit im Alter. Wir brauchen gezielte politische Maßnahmen zur Absicherung von Menschen in prekären Erwerbsbiografien und zur langfristigen Geschlechtergerechtigkeit in Pensionssystemen.

Gesellschaftlicher Spaltung aktiv entgegenwirken

Die zunehmende soziale und kulturelle Spaltung stellt eine ernste Gefahr für unsere Demokratie dar. Wenn Menschen das Vertrauen in Politik, Medien und Institutionen verlieren, wächst die Anfälligkeit für Populismus und Radikalisierung. Dem kann nur durch glaubwürdige politische Kommunikation, Partizipation auf Augenhöhe und konsequente soziale Inklusion begegnet werden – gerade auch durch starke Organisationen in der Sozialwirtschaft.

Gerechtigkeit braucht Ressourcen

Gerechtigkeit ist kein abstraktes Ideal, sondern konkrete Praxis – die allerdings Ressourcen braucht. In der Diskussion im Dialograum zur sozialen Stadt am 30.1.2025 wurde deutlich: Fachkräfte erleben Tag für Tag die Grenzen des Möglichen angesichts fehlender Mittel. Eine echte sozialpolitische Wende erfordert nicht nur neue Finanzierungskonzepte, sondern auch ein Umdenken im politischen Handeln: Menschenwürde und soziale Teilhabe müssen Priorität haben.

Wichtigste Hebel

Frühe Bildung als Schlüssel für Chancengerechtigkeit

Bildung beginnt nicht erst in der Schule, sondern im Kindergarten. Gerade die frühkindliche Bildung legt den Grundstein für soziale, emotionale und kognitive Entwicklung. Wer hier investiert, schafft langfristig mehr Chancengerechtigkeit – besonders für Kinder aus sozioökonomisch benachteiligten Familien und Kinder mit Behinderungen. Pädagogisches Personal braucht dafür Zeit, Ressourcen und gesellschaftliche Anerkennung. Frühkindliche Bildung ist kein „Nice to have“, sondern eine Investition in den sozialen Zusammenhalt.

Altersarmut verringern – besonders bei Frauen

Frauen sind von Altersarmut besonders betroffen. Gründe dafür sind unterbrochene Erwerbsbiografien, Teilzeitbeschäftigung und eine strukturelle Lohnlücke. Eine gerechtere Altersvorsorge braucht Maßnahmen wie Pensionszuschläge für Sorgearbeit, einheitliche Anrechnungssysteme und gendersensible Pensionsreformen. Altersarmut ist kein individuelles Versagen, sondern ein strukturelles Problem, das politische Lösungen erfordert.

Für Solidarität braucht es verständliche und greifbare Argumente

Gesellschaftlicher Wandel gelingt nur, wenn politische Maßnahmen von der Bevölkerung verstanden und mitgetragen werden. Das heißt: Argumente müssen nicht nur fachlich fundiert, sondern auch emotional zugänglich und lebensnah kommuniziert werden. Gute Politik berührt, erklärt Zusammenhänge und bezieht Menschen ein. Narrative, die verbinden statt zu spalten, sind dabei essenziell.

Menschen zu informierten Entscheidungen befähigen

Demokratie lebt von aufgeklärten Bürger_innen, die informierte Entscheidungen treffen können – sei es bei Wahlen, im Konsum oder im beruflichen Werdegang. Dafür braucht es Zugang zu Bildung, transparente Information, Medienkompetenz und Räume für offene Diskussion. Eine resiliente Gesellschaft entsteht nicht durch Kontrolle, sondern durch Vertrauen in die Urteilsfähigkeit ihrer Mitglieder – und durch gezielte Förderung dieser Kompetenz.

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